Kindliche Sehschwäche frühzeitig erkennen und behandeln

Warum die üblichen Vorsorgeuntersuchungen nicht ausreichen

Kind mit Brille

Spoiler

  • Allgemeingesundheitliche Vorsorgeuntersuchungen reichen nicht aus, um Sehfehler verlässlich zu erkennen
  • Fehlsichtigkeit äussert sich oft als Hyperaktivität oder Tollpatschigkeit und wird von Kindern häufig kompensiert
  • Eltern sollten bei ihren Kindern auf Auffälligkeiten wie brennende Augen, häufige Kopfschmerzen und Augenzittern achten und diese medizinisch abklären lassen

Moritz war anderthalb Jahre alt, als er erste Verhaltensauffälligkeiten zeigte. «Er hatte Wutanfälle, war sehr zurückgezogen und wollte nur ungern zeichnen», erinnert sich Maja Eck, die Mutter des Kindes. Fünf Jahre lang suchte sie die verschiedensten Ärzte auf. «Ich wollte einfach nur wissen, was mit ihm nicht stimmt», erklärt Frau Eck. Erst eine Orthoptistin konnte ihr schliesslich helfen: Schnell stand fest, dass Moritz stark weitsichtig ist. «So ein einfacher Test – und das hat so lange gedauert!», wundert sich die vierfache Mutter aus Rheineck. Die kindliche Sehschwäche konnte denkbar einfach behandelt werden: Eine Brille gewährleistet seither, dass sich Moritz altersentsprechend entwickeln kann.

Unzureichende Vorsorgeuntersuchungen

Tatsächlich sind die zwölf Vorsorgeuntersuchungen, die von der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) für jedes Kind von der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr empfohlen werden, nicht ausreichend, um eine kindliche Sehschwäche verlässlich und frühzeitig genug zu erkennen: Die Kontrolluntersuchungen finden in zu grossen zeitlichen Intervallen statt, zudem werden Augenärzte und Orthoptisten zu selten für detailliertere Untersuchungen herangezogen.

Das Problem ist keinesfalls randständig: Nahezu jedes fünfte Kind – immerhin 18 Prozent – kann nicht richtig sehen, Tendenz steigend. Den Eltern bleibt die kindliche Sehschwäche oft verborgen, weil sie sich schmerzlos und schleichend einstellen, sodass das Kind selbst keine Beeinträchtigung bemerkt oder unbewusst Strategien zur Kompensation entwickelt. Auch kann sich eine verminderte Sehleistung in Symptomen wie Hyperaktivität oder Tollpatschigkeit äussern, die nicht sofort einen Augenfehler vermuten lassen.

Kindliche Sehschwäche mit gravierenden Folgen

Verschiedene statistische Erhebungen sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache: Während nach einer 2014 veröffentlichten Langzeitstudie des  Robert-Koch-Instituts die Vorsorgeuntersuchungen von über 90 Prozent der Eltern wahrgenommen werden, befinden sich nach einer Studie der Berliner Augenärzte Dr. Peter Kaulen und Dr. Christoph Wiemer von 2006 nur zehn Prozent der fehlsichtigen Kinder im Vorschulalter in augenärztlicher Behandlung. In der Schweiz zeigte 2009 die Pilotstudie eines Richterswiler Ärzteteams um Dr. Patrik Schimert die Folgen unzureichender Vorsorge: 13 Prozent der untersuchten Vorschulkinder wiesen einen unbehandelten Sehfehler auf.

Welche Folgen das Schielen, die Schwachsichtigkeit (Amblyopie) und verschiedene Brechfehler wie Kurz- und Weitsichtigkeit als häufigste Fehlentwicklungen des kindlichen Auges nach sich ziehen können, führt Prof. Dr. med. Daniel Mojon, Facharzt an der Airport Medical Center Eye Clinic Zürich, aus: «Allein das Schielen kann eine Fehlentwicklung des räumlichen Sehens und zusätzliche Einschränkungen des Gesichtsfeldes nach sich ziehen.» Neben der daraus resultierenden Unfallgefahr und der eingeschränkten Berufswahl betont der Ophthalmologe die psychosoziale Diskriminierung des Schielenden als gravierende Beeinträchtigung.

In der Kosten-Nutzen-Falle

Sollten also alle Kinder bereits im Vorschulalter bei einem Augenarzt oder besser noch bei einem Orthoptisten vorstellig werden? Hier drängt sich die Frage nach Kosten und Nutzen auf. Prof. Mojon wägt ab: «Die Kosten wären sicher nicht so niedrig. Aber natürlich ist eine verpasste Amblyopie, ein verpasstes Schielen, ein verpasster Brechfehler gesundheitsökonomisch auch sehr teuer, nebst der Tragik für den Einzelfall.»

Der Augenmediziner bemängelt das Fehlen von landesweiten Leitlinien und schlägt als mögliches Zukunftsmodell eine einheitlichere Ausbildung von Allgemein- und Kinderärzten sowie altersspezifische Routinekontrollen bei allen Kindern vor. «Leider fehlt so etwas noch.»

Kindlicher Sehschwäche vorbeugen

Umso mehr sind die Eltern gefragt. Véronique Glauser, Präsidentin von Swiss Orthoptics, weist Frühgeburten und Kinder aus Familien, in denen Fehlsichtigkeit oder Stoffwechselerkrankungen vorliegen, als Risikogruppen aus, rät aber auch bei scheinbar unauffälligen Kindern, auf verbreitete Symptome zu achten. «Es gibt sehr viele Anzeichen für eine kindliche Sehschwäche», erklärt die Orthoptistin. «Wenn das Kind beispielsweise über brennende Augen klagt, wenn es den Kopf bevorzugt schief hält, Augenbewegungsstörungen oder Augenzittern aufweist, sollte dem nachgegangen werden.»

Da sich Brechfehler und Schielen bereits vor dem sechsten Lebensmonat des Kindes einstellen können, empfiehlt Frau Glauser für auffällige Kinder eine erste Vorsorgeuntersuchung ab diesem Zeitpunkt. Aber auch sich augenscheinlich normal entwickelnde Kinder sollten zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr auf ihre Sehleistung hin kontrolliert werden.

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